Versuchsstelle West

Versuchsstelle West

Am Ende der Zwanziger Jahre versuchten sich viele Techniker und Wissenschaftler, aber auch Abenteurer und Phantasten, auf dem Gebiet der Raketenentwicklung. Die Reichswehr erkannte recht schnell, dass es galt selbst zu handeln und die Spreu vom Weizen zu trennen. So beauftragte das Heereswaffenamt im Sommer 1930 das Referat Ballistik und Munition, die Brauchbarkeit großkaliberiger Raketen zu untersuchen. Die Entwicklung immer größerer Kanonen und Granaten war allein auf Grund ihres Gewichts und der schlechten Transportmöglichkeiten an ihre Grenzen gestoßen; das hatte der taktisch unsinnige Stellungskrieg von 1915 bis 1918 gezeigt.

Ab 1930 begannen in Kummersdorf die ersten streng geheimen Versuche mit Pulverraketenbrennöfen. Unter der Leitung des späteren Generals Walter Dornberger wurden für diese Zwecke Versuchsstände, Messhäuser und Konstruktionsbaracken errichtet. Um die Jahreswende 1930/31 entstand so zwischen der Schießbahn-Ost und der inzwischen hinzugekommenen Schießbahn-West die Versuchsstelle-West. Am Anfang stand die Erprobung der von der Industrie angelieferten Schwarzpulver-Raketentreibsätze, wie z.B von Friedrich Wilhelm Sander. Gleichzeitig entwickelte man auf dem Raketenflugplatz Berlin-Reinickendorf eine Rakete mit Flüssigkeitstriebwerk. Diese wurde bereits vom Heereswaffenamt bestellt. Am 22. Juni 1932 kam die 3,6 m lange und 20 kg schwere Rakete zum Versuch nach Kummersdorf. Die Rakete entwickelte genügend Schub um aufzusteigen.

In der Höhe von 70 m legte sie sich allerdings in die Waagerechte und stürzte ab. Das Experiment war misslungen.

Der 22. Juni 1932 war ein bedeutender Tag in der Geschichte der Versuchsstelle-West. An diesem Tag sollte auf dem Schießplatz Kummersdorf eine Drei-Liter-Flüssigkeitsrakete (Mirak ) abgeschossen werden. Rudolf Nebel, Wernher von Braun, Beermüller und Ehmayer starteten von Reinickendorf mit zwei vorführungsbereiten Mirak in Richtung Kummersdorf. Dem damals 20-jährigen Wernher von Braun imponierten die Anlagen in Kummersdorf so sehr, dass er noch 30 Jahre später folgendes schrieb:

„Was wir auf dem einsamen Platz fanden, erregte unseren Neid und unsere Bewunderung zugleich. Wir fanden einen vollendeten Prüfstand für die Brennkammern von Flüssigkeitsraketen vor, mit Betonmauern umgeben und mit einem Schiebedach versehen. Wir staunten über den Beobachtungsraum und zeigten uns beeindruckt von dem Messraum, in dem sich ein Wirrwarr von allen möglichen Prüfleitungen, Registrierapparaten, Messgeräten u.s.w. befanden. Auf der Schießbahn, wo unsere Rakete erprobt werden sollte, standen neuartige Kino-Theodoliten zur Verfügung, die den gesamten Flug der Rakete auf den Film bannen und zugleich ihren Flugweg vermessen konnten. Wenn wir da an unseren Laden in Reinickendorf dachten, hätten wir eigentlich Minderwertigkeitskomplexe haben müssen.“

Beeindruckt von den Einrichtungen und der Möglichkeit in Kummersdorf unbeschränkt entwickeln und testen zu können, fasste Wernher von Braun den folgenschweren Entschluss, im Heereswaffenamt für militärische Zwecke zu arbeiten. Er konnte nicht ahnen, dass nur 2 km entfernt und 10 Jahre später an der Entwicklung einer Atombombe gearbeitet werden würde und die Kombination einer Rakete mit der Bombe sich zur größten Bedrohung der Menschheit entwickeln würde. Hätte er es geahnt oder gewusst, wäre seine Entscheidung vielleicht anders ausgefallen.

Von Braun wechselte am 1.November 1932 nach Kummersdorf über und nahm alles bisherige Wissen und die Erfahrungen aus Reinickendorf mit in die militärische Entwicklung.

Etwa zum selben Zeitpunkt wurde der Bau des ersten aus Beton hergestellten Prüfstandes fertiggestellt- der Prüfstand P2. Er befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Pulverraketenprüfstand. Der neue Prüfstand war 6 m lang, 5m breit und 4m hoch; dazu gehörten noch zwei Baracken mit Arbeitszimmern, Konstruktionsraum, Dunkelkammer und eine Werkstatt.

Es gibt unterschiedliche Daten zum ersten Brennversuch. Walter Dornberger nennt in seine Memoiren den 21. Dezember 1932, das erscheint uns unglaubwürdig. Von Brauns Mechaniker Grünow notierte den 4.3.1933, das erscheint plausibel. Der Versuch verlief entgegen der Erwartungen aller Beteiligten erfolgreich. Danach erlitt das Team einige Rückschläge. Bei einem Versuch wurde durch die Explosion des Ofens die Einrichtungen des Prüfstandes fast völlig zerstört. Nach der Wiederherstellung des Prüfstandes wurden die Versuche fortgeführt. Aufgrund der hohen Auslastung des Prüfstandes P2 wurden im Herbst 1934 weitere Prüfstände geplant und im Frühjahr 1935 gebaut. Auf diesen neuen Prüfständen konnte die 1500 kg- Brennkammer des Aggregat 3 (P III) bzw. das gesamte Aggregat 3 getestet werden (PIV). Beide Prüfstände sind als Ruinen erhalten geblieben.

1933 begannen auch die Arbeiten an der ersten kompletten Rakete mit Flüssigkeitsraketentriebwerk, dem Aggregat 1 (A1). Die 150 kg schwere Rakete sollte von einer Abschussrinne gestartet werden. Zum Start kam es allerdings

wegen technischer Schwierigkeiten nicht. Ein neues Projekt, das A 2, wurde entwickelt. Parallel dazu begannen die Arbeiten an einem neuen Triebwerk mit 1000 kg Schubleistung.

Mit dem Gedanken, Jagdflugzeuge mit einem Flüssigkeitstriebwerk anzutreiben, befasste sich Wernher von Braun so eingehend, dass er im März 1936 ein solches Triebwerk in eine „Junkers Junior“ einbaute.

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